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Di, 30.August 2011
niedrigschwellig
von: m8
Gedanken beim Lesen von "R. Lindner: Hauptsache Kopplung. Eine Definition Niederschwelliger Sozialarbeit; in: Neue Praxis, Heft 06/2008, S. 578ff. "

- zunächst fehlt mir eine Einigkeit darüber, was man unter niederschwelliger Arbeit versteht
- implizit scheint eine Definition nahe an dem verwendet zu werden, was man im Arbeitsfeld selbst als "Beziehungsarbeit" bezeichnet, s.a. letzter Absatz im Text

- Hypothese: die Adresse im Funktionssystem wird über den Bedarf an Hilfe gebildet und über die daran anschließende funktiosrelevanten Kommunikatiosprozess stabilisiert
- Funktion ist die Zurverfügungstellung von Reinklusionschancen
- die Kopplung an das System geschieht einzig innerhalb des Systems, also über funktionsrelevante Kommunikation
- Hypothese daraus: Beziehungsarbeit ist Rauschen

Neben der sehr guten theoretischen Ausarbeitung im Text, könnte man sich auch empirisch nähern:
- was macht niedrigschwellig arbeitende Einrichtungen aus?
- sie setzen für die angesprochenen Nutzer weniger Hürden/Abweisungs- und Auswahlmechnismen als andere Institutionen im gleichen Feld
- sie versuchen dem potentiellen Nutzer den Zugang zur Einrichtung und Hilfe möglichst einfach zu gestalten
- Schwellen sind Bedingungen, Erwartungen die an den potentiellen Nutzer gestellt werden, damit er das Angebot nutzen kann
- nicht alle niedrigschwellig arbeitende Einrichtungen zielen nur auf Vermittlung und Motivation ab, manche auch auf direkte Funktionserfüllung (oder im Auge des Autors auf global action)
- Beispiele:
Es gibt Beratungsformen in der Wohnungslosenhilfe die auf eine zeitliche Konstanz und Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit angelegt sind, auf der anderen Seite gibt es offene Beratungseinrichtungen, die man bei Bedarf aufsucht. Im Hinblick auf Konstanz (die ein Zugangsproblem sein kann) ist die offene Einrichtung niedrigschwelliger. Sie arbeitet fokussiert an Hilfestellungen bei der Wohnungssuche, Antragsstellung.

In der Suchthilfe gibt es abstinenzorientierte, aufzusuchende Angebote für die man teilweise seine Wohnung aufgeben muss und suchtbegleitende Angebote, die teilweise auch noch aufsuchend ausgerichtet sind. Hier stehen lebenspraktische Beratungen im Vordergrund und suchtbedingte Exklusionsvermeidung/-verminderung stehen im Fokus. Auch diese Einrichtungen bezeichnen sich als niederschwelliges Angebot.

- der Spritzenaustausch, die Essenausgabe ohne Geldfluss sind Auswirkungen des Funktionssystems Sozialer Arbeit (sekundäre Funktionserfüllung) und keine Verdeckungen der eigentliche Arbeit


Zurück zur Theorie:
- jede Beratungsmethodik ist Programm des Systems
- jede Methodik reflektiert die Bedingungen der Möglichkeit zu einer Funktionserfüllung oder besteht längerfristig nicht (Evolutionsgedanke)
- es gibt effektive Methoden, die von bestimmten Erwartungen gegenüber dem Nutzer ausgehen müssen (etwa sprachliche Gewandheit, Reflektionsfähigkeit, Verlässlichkeit, Bindung an die Einrichtung zur Wiederholung...)
- damit exkludiert es durch Diskriminierung andere Adressen
- dies ist funktionsrelevant, da hierdurch Möglichkeiten zur Reintegration geschlossen werden, was der Funktion des Systems widerspricht
- damit entsteht innersystemisch die Notwendigkeit zur Anpassung oder Neuentwicklung weiterer Programme zur Funktionserfüllung: etwa Angebote mit weniger Vorbedingungen
- Das System kann Adressen nur erkennen und bilden durch den Bezug auf die Funktion des Systems. Wenn Adressen gebildet und aufrecht erhalten werden, dann nur durch systemische Kommunikation. Innerhalb sich als niedrigschwellig bezeichnender Arbeit werden zu viele Klienten betreut, als dass man dies durch ein systemexternen Prozess (Kamel) erklären könnte/sollte.

In jeder Beratung sind Beziehungsaspekte zu berücksichtigen und Sachinhalte zeitweise zurück zu stellen. Dies ist in Beratungen in vergleichsweise hochschwelligen Suchtberatungen ebenso der Fall. Es spricht aus meiner Sicht wenig darfür, die Einrichtung/den Beratungsstil deswegen als niedrigschwellig zu bezeichnen oder im Moment der Verwendung von Beziehungsarbeit von einem Modus niederschwellig zu sprechen. Auf der anderen Seite hat man eine hohe Argumentationslast, wenn man niedrigschwellige Arbeit stets als local-action- und als rein beziehungsorientiert beschreibt. Es entspricht zumindest nicht der Selbstbeschreibung im Untersuchungsfeld.

Niedrigschwellige Arbeit löst aus dieser Sicht, wie im Text beschrieben, ein Adressierungsproblem. Sie regelt aber "nur" den Grad an Zumutungen und Erwartungen hinsichtlich der Fähigkeiten des Klienten zur Inanspruchnahme. Gleichwohl schließt sie global-action-Orientierungen der Programme nicht aus. Sie regelt die Bedingungen zum Zugang, den angesprochenen Personenkreis. Im Übrigen entstehen die Zugangsschwierigkeiten auch aus organisatorischen und nicht stets klientenbedingten Ursächlichkeiten.

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theoretisch unterkomplex, aber charmant?
>- implizit scheint eine Definition nahe an dem verwendet zu >werden, was man im Arbeitsfeld selbst >als "Beziehungsarbeit" bezeichnet, s.a. letzter Absatz im Text

An dieser Stelle im Text wird das andersherum formuliert: Es wird der Begriff Beziehungsarbeit für das gesetzt, was zuvor als Kopplungsarbeit definiert worden ist. Damit wird der Vorschlag gemacht, den Begriff Beziehungsarbeit trennschärfer zu verwenden und nur im Hinblick auf die beschriebenen Kopplungsprobleme anstatt an organisatorischen Zielen, dem Selbstverständnis des Streetworkers usw. orientiert.
Grundsätzlich sollte festgehalten werden, dass der Text sich radikal von dem abwendet, was die Praxis gern als niederschwellige Arbeit bezeichnet. Er ist ausschließlich der systemtheoretischen Definition des Funktionssystems verpflichtet und versucht eine Beschreibung, die sich mit einschlägigen Texten (z. B. Olaf Maaß' Definition des Mediums) verträgt. Auf die Praxis bezogen bedeutet dies, dass es oftmals lediglich um kurze Momente in kommunikativen Krisenlagen (für einen Beobachter) geht. Damit ist ja auch gesagt, dass in Organisationen mit niederschwelligem Zugang nicht wesentlich mehr niederschwellig kommuniziert wird als in anderen.
Diesem Anspruch wird der Text m. E. aber zum Teil gerecht. So weist er im Teil der theoretischen Erörterung deutliche Schwächen auf. Z. B. hätte man die Adressentheorie wesentlich schärfer herausarbeiten und in die anschließende Beschreibung einbeziehen können. Der verwendete Systembegriff mutet außerdem noch sehr räumlich und zu wenig differenzlastig an, so dass die Beschreibung vergleichsweise wenig Komplexität eröffnet.
Nichtdestotrotz hat der Vorschlag grundsätzlich einen gewissen Charme (und verträgt sich mit einschlägigen systemtheoretischen Beschreibungen): Niederschwellige Sozialarbeit kommuniziert in Situationen, in welchen das Funktionssystem auf interaktiver oder/und organisatorischer Ebene kopplungsbedingt stockt (egal wer dafür verantwortlich ist).
 
Da kommt mein Missverständnis vielleicht daher, dass mir bei Begriffsbildungen empirisch erschließbare Verwendungen irgendwie auch beachtenswert erscheinen. Macht Anschlussfähigkeit leichter. Sicherlich gibt es aber auch gute Gründe, kontraintuitiv vorzugehen.

Nebenbemerkung: Schon alleine niederschwellig arbeitende Kollegen und Einrichtungen hinsichlich der Erwartungen entlang eines intuitiv verwendeten Begriffs von "niederschwellig" zu prüfen, könnte schon zu Erhöhung der Trennschärfe beitragen. Also zu schauen, wo Schwellen liegen könnten.

Unter dem von dir angesprochenen Aspekt könnte ich noch mal überlegen, ob das eigentlich, wie schriebst du: charmant ;-) für mich ist, über die Kopplung von Bewußtseinssystemen an Organisationen oder gar Funktionssystemen nachzudenken. Intuitiv habe ich den Text ja gelesen unter der Problemstellung: Fortsetzung der systemischen Autopoiesis, also der funktionsrelevanten/funktionserfüllenden Kommunikationsprozesse. Ich fand intersytemische Kopplungen zu beschreiben, gerade wenn es um unterschiedliche Prozesse geht (Kommunikation vs. Bewußtsein), ja sehr schwierig.
 
>Schon alleine niederschwellig arbeitende Kollegen und >Einrichtungen hinsichlich der Erwartungen entlang eines >intuitiv verwendeten Begriffs von "niederschwellig" zu >prüfen, könnte schon zu Erhöhung der Trennschärfe >beitragen. Also zu schauen, wo Schwellen liegen könnten.

Ich würde heute noch weniger so vorgehen als früher, weil die Kollegen Praktiker zu oft völlig falsch liegen. Wenn man das Verhältnis von Theorie und Realität als eines der doppelten Kontingenz sehen darf, so wurde und wird in der Beschreibung Sozialer Arbeit der Schwerpunkt nach meinen Beobachtungen immer noch viel zu sehr auf die Realität gelegt, die sich aber von der Theorie kaum irritieren lässt. Die meisten "praktisch orientierten" Theorieversuche sind doch in theoretischer Hinsicht - naja, bestenfalls unterhaltsam. (Ich denke da jetzt an die "Großen", deren Bücher unter Praktikern gut verkauft werden.)

Ich möchte anders optieren, weil Theorie lustiger ist und nicht so platt und nicht so polemisch. Aber natürlich hat das Ganze dann immer weniger praktische Relevanz. Diese Erwartung habe ich inzwischen auch nicht mehr. Ich mache Theorie, um meine Inkonsistenzängste zu bearbeiten und gehe arbeiten, weil ich Geld brauche. Und, seien wir doch mal ehrlich: Wie viel Theorie braucht man schon im Alltag eines Sozialarbeiters?

Ich denke nach wie vor, dass ich im Arbeitsalltag maximal 10% dessen abrufe, was ich im Studium gelernt habe und das gilt nicht nur theoretisch sondern auch methodisch, ethisch und anderweitig fachlich.

Wenn man "spürbaren" Realitätskontakt möchte - ich zitiere einen Innviertler Arzt auf die Bemerkung hin, dass Studien den positiven Effekt von Training auf den Demenzverlauf belegen: "Eine Studie ist schnell gemacht und bringt immer das Ergebnis, das ich möchte." Aber das finde ich irgendwie zu langweilig und es bearbeitet meine Konsistenzprobleme ja auch nicht.
 
noch zwei
1. Niedrigschwellige Sozialarbeit ist für die Sozialen Hilfen vielleicht, was Werbung für die Wirtschaft ist? (Wenn ich daran denke, wieviel Arbeit ich investiert habe, um das Produkt "jobCenter" immer wieder an den Mann und die Frau zu bringen :-) )

2. Der Begriff ist für mich im Feld (tm) so zentral und eigentlich eine prominente Selbstreflektionsinstanz, als dass ich ihn in der Theorie vielleicht wirklich nicht kontraintuitiv einführen würde. Insbesondere deswegen, weil man meiner Ansicht nach niederschwellige Arbeit genau daran bewerten könnte, wieviel effektiver oder effizienter sie zielführende Arbeit/funktionsorientierte Arbeit/global action ermöglicht, im Vergleich zu ähnlichen Einrichtungen mit anderen Zugangsbarrieren. Sozusagen als Vergleichsstudie könnte das Impulse zur Reflektion geben...
 
Theoriebildung ist keine Empirie
zu 2. Ich würde unbedingt daran festhalten, eine klare Trennung zwischen Theoriebildung und empirischer Verifizierung zu vollziehen. Problematisch ist sicherlich, dass der Begriff im Alltag geläufig erscheint. Aber das tun Begriffe wie Penetration oder Beobachtung auch. Und niemand käme auf die Idee, diese, so, wie sie in der Luhmannschen Theorie gebraucht werden, empirisch prüfen zu wollen. Man prüft die Sachverhalte oder Phänomene, die dann durch die Begriffe beschreibbar werden.
Insofern ist die Begriffswahl m. E. in Ordnung und darf hinsichtlich ihrer Verwendung "kontraintuitiv" erfolgen. Sie ist diesbezüglich im Kontext Luhmannscher Begriffsbildung in bester Gesellschaft.
Effizienzprüfungen usw. fallen schon in den Bereich der Veriffizierung von Beschreibungen, die durch den Begriff neben anderen Begriffen möglich werden.
Themen
Begriffe
Funktionssystem
Interaktion
Lebenswelt
local action
Medium
niedrigschwellig
Quellen
rechtlicher Betreuer
Anschlussfähig seit 6474 Tagen
Letzte Änderung: 2013.07.25, 13:25
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