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So, 15.Juli 2012
Niederschwelligkeit und Moral
von: m8
Grundsätzlich müsste man funktional-strukturell betrachtet die These vertreten, dass Sozialarbeit als Funktionssystem moralfrei und/weil funktionsorientiert arbeitet. Oder arbeiten sollte, denn moralische Argumentationen sind im Arbeitsfeld auf der Ebene der Interaktion sehr alltäglich und haben durchaus strukturellen Wert. Im Folgenden soll das kurz und ansatzweise skizziert werden für den Bereich der Arbeit mit nicht-abstinenten alkoholabhängigen Menschen (chronisch mehrfach geschädigte/beeinträchtigte Patienten, CMA-Patienten).

Derzeit arbeite ich sog. niederschwellig mit Menschen mit einer Alkoholproblematik. Es wird dabei ein sog. akzeptierender Ansatz verfolgt. D.h., dass die weiterhin vermutlich wünschenswerte Abstinenz nicht in den Vordergrund der Zumutungen an den Klienten gestellt wird. Es wird vielmehr versucht, Folgewirkungen zu vermeiden, zu mindern oder zu beheben. Insbesondere stehen in der Arbeit Aspekte wie Wohnungslosigkeit, wirtschaftliche Teilexklusion ((teilweises) Fehlen des Mediums, mangelhafte Adressierbarkeit, da z.B. Probleme beim Einkaufen etc.), Exklusion aus dem Hilfesystem (Zumutungen des Leistungsträgers werden nicht erfüllt, Anträge nicht gestellt, Erreichbarkeit nicht gewährleistet, Termine nicht wahrgenommen), Mangelernährung, gesundheitliche Exklusion (Nichtwahrnehmung von Kontaktnotwendigkeiten zum System, Nichtannahme bei Ärzten) und die Regulierung von Strafangelegenheiten u. dgl. im Vordergrund. Aspekte, die man unter nicht-kranken Bedingungen als alltägliche Anforderungen betrachtet und der individuellen Lösung überlässt. Aspekte die aber die typische Exklusionsspirale im Kontext von CMA darstellen.

Selbstverständlich werden die entstehenden Problemlagen im Rahmen der Möglichkeiten reflektiert und als etwaige Folgen von verringerter Aufmerksamkeit durch Alkoholkonsum konstruiert und eine Beschäftigung mit dem Thema entsprechend angeboten. Es gibt andere Beratungsansätze mit Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit, die davon ausgehen, dass individuell der maximale Leidensdruck erreicht sein müsse, bevor Unterstützungen erfolgreich ansetzen können. In dem in der Einrichtung verfolgten Ansatz wird der sog. Leidensdruck zunächst minimiert.

Der typische Vorwurf an akzeptierende Praktiken besteht nun darin, dass man sich zum Co-Abhängigen macht und die problematische Situation stabilisiert. Eine Überlegung auf die man mit diesem Arbeitsansatz tatsächlich stößt. Wir schaffen den Menschen, der Behinderungsdefinition der ICF folgend ein Umfeld, in dem ihre Behinderung vermindert, teilweise sogar aufgehoben wird. Entsprechend ist unserer Tätigkeit ein Hilfsmittel. Teilweise lässt sich tatsächlich beobachten, dass damit auch die Reflexionsmöglichkeit der weiterhin bestehenden Krankheit verloren geht. Dass die positiven Aspekte des Trinkens wieder oder weiter in den Vordergrund treten. Der akzeptierende Ansatz hat Folgen, wenn man auf die Zukunft projiziert annimmt, dass Alkoholismus dadurch stabilisiert wird. Sozial werden Ressourcen gebunden. Persönlich und gesundheitlich entstehen unter dieser Annahme irreversible Schäden.

Die Auflösung des Dilemmas besteht letztlich darin, dass wir zum einen vermuten, dass höhere Problembelastungen zu vermehrtem Alkoholkonsum führen könnten. Und dass ein vermehrter Alkoholkonsum die Zeiten für Beratungsgespräche entsprechend vermindert, die Chancen für weitere Exklusionen jedoch vermehrt. Zum Zweiten wird das Dilemma aufgelöst, in dem wir die Annahme vertreten, dass durch einen eher akzeptierenden Ansatz zentrale Beziehungsmuster wie Angenommen fühlen, Grenzen gewahren sehen, Autonomie über Lebensinhalte bewahren können eher bedient werden können, was die Grundlage für spätere Zumutungen zu einer Auseinandersetzung mit der persönlichen Lebenslage schafft.

Was hat das ganze nun mit Moral zu tun. Der fachliche Stand besteht in dem Umfeld in dem ich tätig bin tatsächlich darin, dass man sich grundsätzlich und zumeist auf Grund persönlicher Präferenzen für oder gegen den einen Ansatz entscheidet und in der Folge den entsprechend anderen Ansatz ablehnt oder unterstützt. Total. Dies hat dann Auswirkungen auf Klientenselektionen, auf Arbeitsansätze, auf Kooperationsstrukturen und auf Versorgungschancen bei weiteren Reinklusionsstrukturen (bei Ärzten, in Ämtern, Arbeitsprojekten etc.). Die Entscheidung scheint -- mehr oder weniger offen kommuniziert und reflektiert -- tatsächlich zweiwertig. Die Chancen sind damit mehr oder weniger zweiwertig ausgelegt. Man gibt dem nicht-abstinenzwilligen Klienten (und der ihn begleitenden Institution) objektiv gesehen eine Chance, schafft aber -- vielleicht unwillkürlich -- strukturell eine Umwelt, die die Möglichkeit des Gelingens deutlich einschränkt. Ausgehend von dem Einzeltatbestand der fehlenden Abstinenzmotivation wird auf zahlreiche Folgeaspekte interpoliert und so evtl. vorhandene Reinklusionschancen minimiert. Das ist der Modus von Moral, der ausgehend von einem sozial abzulehnenden Aspekt auf die gesamte Person auswirkt.

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Was ich zunächst loswerden will ist, dass es einen einige Jahre alten Peter-Fuchs-Text gibt, der die These vertritt, dass das Funktionssystem Soziale Arbeit derart moralnah beobachtet, weil es kein Medium ausgebildet hat und deshalb ständig nach sich selbst sucht.

http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/ethik.pdf

Das Erziehungssystem hat ein ähnliches Problem. War aber alles vor der Maaßschen Entdeckung des Anspruchs :).

Inhaltlich werde ich mir das noch genauer einverleiben. Vor allem das im letzten Absatz Beschriebene deckt sich erschreckend mit meinen Praxiserfahrungen - und viele, die Streetwork oder Ähnliches machen oder gemacht haben, werden das ebenso empfinden. Die Kopplung an Niederschwellige Arbeit scheint oftmals geradezu ein Hemmnis für echte Inklusion in Soziale Arbeit zu sein.
 
eine empirische Fragestellung
...denke ich mal. Forschungsfrage: Vielleicht entsteht der Drang zu moralischen Entscheidungen immer dann, wenn man es mit einer vermeindlich unentscheidbaren Frage zu tun hat, bei der man aber eine Meinung hat.

Vermutlich kann man an Hand von Studien, vielleicht sogar an Hand bereits vorhandener Studie eine Entscheidung für das vorzuziehende Vorgehen treffen. Miller/Rollnick behaupten das.
 
Aber man kann doch sowieso nur unentscheidbare Fragen entscheiden...
Ich denke mal, dass man das etwas abstrakter formulieren könnte: Bei Unsicherheiten oder "Versagen" eines Mediums ist es ein lohnendes Vorgehen, auf ein anderes auszuweichen.

Allerdings haben Systeme ja noch andere Krisenmechanismen: symbiotische Mechanismen, generelle Körperreferenzen usw.
 
Der Vorwurf, dem akzeptierende Ansätze gern ausgesetzt werden, man stütze das problematische System usw., ist m. E. hochgradig moralnah gebaut und geht fast nie auf sozialarbeiterische Argumentation zurück. Zum Einen riecht er immer irgendwie nach einem Normalisierungsansatz, von dem Soziale Arbeit lange weg ist.



Zum Anderen, und das ist der weit wichtigere Aspekt, gilt es zwischen Feststellung und Vorwurf zu unterscheiden. Die Erkenntnis, dass man das System stützt, ist ja eine sehr produktive (und ur-systemische), als Vorwurf formuliert wird sie zum Totschlagargument/Erkenntnisblockade.



Exklusionsverwaltung - die immer systemstützend ist und gute Gründe dafür hat, denn es könnte ja immer noch schlimmer kommen - macht einen wichtigen Bestandteil Sozialer Arbeit aus und wird in vielen Bereichen (z. B. Behindertenarbeit oder Demenzberatung) akzeptiert. Dass dies im Suchtbereich häufig anders ist, könnte man mit der Zurechnung von Erleben und Handeln erklären: Demenzkranke und Behinderte erleben das Problem, bei Suchtkranken ist das Problem eine Konsequenz ihrer Handlungen.



Also darf hier nicht ohne weiteres verwaltet werden, denn der Klient könnte ja anders, und damit sind wir auch schon recht zügig bei Moral. Würde man, z. B. wegen wissenschaftlicher Erkenntnisse, von Erklärungsprinzipien des Handelns auf solche des Erlebens umschwenken (z. B. den Suchtdämon, der vom Süchtigen Besitz ergreift), würde die Moral von nicht achtenswert (der faule Sack kriegt den Arsch nicht hoch) zu achtenswert (der arme Kranke, aber er schlägt sich wacker) umschwenken.



Dass Moral dabei so durchschlagend ist, wie im letzten Absatz erwähnt, ist nach meiner Beobachtung eines der größten Hemmnisse im Arbeitsalltag. Sie schlägt ja nicht nur auf die gesamte Person durch sondern auf Personenschemata, welche sich die Mitarbeiter zurechtlegen und wirkt sich somit auf den Arbeitsansatz aus. Mitarbeiter tun dies vor allem, um den Anforderungen des Arbeitens in der Organisation gerecht werden zu können: Man muss dem Leitbild entsprechen, Quoten erfüllen und dann auch noch Sinn in seiner Arbeit finden. So durfte ich erleben, wie eine Bekannte, die nach der Ausbildung in einem Jobcenter angefangen hatte, schon nach wenigen Monaten in Arbeitslosen nicht länger Bedürftige sondern die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels sah.



Wenn es im Jobchenter schwer fällt, die Vermittlungsquote zu erfüllen, ist dies natürlich erklärungsbedürftig. Als Erklärungsprinzip hält dann der unmotivierte Klient her, der einfach nur anders HANDELN müsste. Glücklicherweise tut er dies aber fast nie und somit merken wir nicht, dass die Welt auch danach kein Garten Eden wäre.



Bei Streetwork haben wir uns mal in einem mühsamen langen Kampf Ressourcen verschafft, um unsere „Klientenverwaltung“ mit „konkreten Inklusionshilfen“ anreichern zu können. Damit kompensierten wir die unwilligen anderen Sozialeinrichtungen, mit denen die Klienten nicht in stabile Beziehungen kamen. Nach einigen Monaten richtig cooler Sozialarbeit stellten wir fest, dass die Welt, die wir im Zuge der Inklusionsarbeit mit den Klienten eröffnet hatten (Jobs, Wohnungen, Rechnungen werden gezahlt, man geht zum Arzt), sie weder wollte noch brauchte. Es gab halt nur eine begrenzte Anzahl guter Wohnungen, Jobs und irgendjemand muss ja auch das billige Dosenbier kaufen.



Soziale Arbeit ist in erster Linie Verwaltungshandeln (frei nach einem geschätzten Kommilitonen), wir können nicht alle Rockstars sein, irgendjemand muss auch Schallplatten und Konzerttickets kaufen und uns zujubeln.



Abschließend möchte ich bemerken, dass ich den zweiten Satz des Beitrags sehr schlitzohrig formuliert finde: Er fungiert offensichtlich als sein eigenes Beispiel und zeigt auf, wie alltäglich moralische Formulierungen und Bezüge sind.
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Funktionssystem
Interaktion
Lebenswelt
local action
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Letzte Änderung: 2013.07.25, 13:25
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