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Mo, 07.Mai 2012
Sag Ja oder stirb!
von: nwe
Zur Entstehung von Klienten in sozialarbeiterischen Organisationen

"Mir gefällt inzwischen die Idee besser, dass die Adressbildung eine - nahezu ausschließliche - Leistung des organisatorischen Systems ist, welches in der Folge seine Programmatik loslässt."

Ausgehend von dieser bloghaft getätigte Äußerung werden die nachfolgenden Überlegungen den Versuch unternehmen, den Beobachtungsfokus bei der Untersuchungen der Frage, wie denn Klienten generiert werden, von der - bei oberflächlicher Betrachtung eine fadenscheinige Gleichberechtigung suggerierenden - strukturellen Kopplung weg und hin zur fortlaufenden Reproduktion des jeweiligen organisatorischen Systems hin zu legen. Es geht also mitnichten um eine Darstellung nach dem Motto: "Zwei Systeme begegnen sich, nehmen einander wechselseitig wahr und nehmen wahr, dass sie sich wechselseitig wahrnehmen und irritieren einander fortan unter den Bedingungen des Rekurses auf bereits getätigte und beobachtete Irritationen." Statt dessen soll in erster Linie auf Beobachtungen desjenigen sozialen Systems geschaut werden, das diese Kopplung im Zuge seiner Reproduktion ermöglicht und damit dem gekoppelten Bewusstsein einen - und dies soll nachfolgend vorrangig aufgezeigt werden - extrem schmalen Korridor von Teilhabemöglichkeiten aufspannt.

Um die gemeinte Umstellung des Beobachtungsfokus zu verdeutlichen, werden zunächst einige Überlegungen dazu erfolgen, wie Intimsysteme unter der Bedingung einer Demenzerkrankung solcherlei Adressbildung vornehmen. Dieser Ausgangspunkt erscheint geeignet, weil Beobachter in der alltäglichen Betrachtung von Intimsystemen normalerweise eher geneigt sind, von 2 gekoppelten Bewusstseinen auszugehen und weniger von einem sozialen System, das Adressen auswirft und die Bewusstseine dabei ausdifferenziert.

Vorausgesetzt werden nachfolgend jene Bemerkungen, die Peter Fuchs zum Thema Adressbildung in seinem Text "Das Fehlen von Sinn und Selbst" macht. In den Abschnitten II und III zeigt er dort eine Zusammenfassung jener Theoriestücke auf, welche die nachfolgenden Überlegungen inspiriert haben und die hier nicht erneut zusammengefasst werden sollen:

Link zum Text "Das Fehlen von Sinn und Selbst": http://www.fen.ch/texte/gast_fuchs_behinderung-selbst.pdf



1.
Demenzerkrankungen sind für Intimsysteme Umweltereignisse. Zweifellos erfordern sie einen extremen Grad struktureller Anpassung des Systems und in entsprechend ausdifferenzierten Expertenkulturen wird gern der Slogan "Demenz ist eine Familienkrankheit!" rezitiert, aber die Erkrankung wird, sowohl vom unmittelbar betroffenen Intimsystem selbst als auch von anderen beteiligten Beobachtern, in der Umwelt verortet. In der Regel wird sie dort, z. B. nach dem Schema des kriegerischen Eindringens, in einem der gekoppelten Bewusstseine angesiedelt.

Diese Konstruktionsleistung ist für das Intimsystem notwendig, denn es wird mit fortschreitendem Krankheitsverlauf mit immer neuen Zumutungen konfrontiert, welche erklärungsbedürftig sind, weil sie nicht der Anlage der Adresse, auf welche das System Bezug nimmt, entsprechen. Wenngleich diese Beobachtung für das System keine grundsätzliche Neuigkeit darstellt - Adressen sind der permanenten Reflexion und Anpassung durch das System ausgesetzt - so machen in Demenzkontexten verschiedene Faktoren eine zusätzliche Erklärung notwendig oder auch – und dies scheint mir in der fachlichen Untersuchung ein vernachlässigter Aspekt zu sein - möglich: Es ist bereits ein gewisses Lebensalter erreicht, es besteht eine entsprechende Diagnose oder Vermutung, der Grad der Zumutungen überschreitet alles bislang Dagewesene, man kennt das Thema Demenz aus dem Fernsehen usw.

Wichtig für die hier angestrengten Überlegungen ist vor allem der Aspekt, dass Intimsysteme mittels Adressen über vorstrukturierte Beobachtungsschema für die Zurechnung von Handlungen (kommunikativ beobachtbaren Äußerungen, Mitteilungshandeln) verfügen, die der Kommunikation "Haltepunkte" verschaffen, also Einordnungsmöglichkeiten vorstrukturieren und damit ein Verstehen ermöglichen. So wird ein hohes Maß an Rekursivität erzeugt und auch benötigt und umso anspruchsvoller gestalten sich kommunikative Prozesse, wenn Handlungen verstanden werden sollen, die auf den ersten Blick lediglich Nichtverstehen offerieren. Die vom Intimsystem ausdifferenzierte Adresse ermöglicht zunächst keinen dermaßen breiten Spielraum und in dieser Hinsicht erweist sich das Erklärungsprinzip "Demenzerkrankung" als äußerst stützend, weil es das Verstehen, auch wenn dies mitunter nur ein Verstehen des Nichtverstehens ist, und somit den kommunikativen Anschluss ermöglicht.

Mit Demenz konfrontierte Intimsysteme bilden mit fortschreitender Erkrankung zunehmend auf diesen Umstand spezialisierte Beobachtungskulturen aus, die ein bedarfsweises "Über-" oder "Unterbeobachten" gestatten, die den Interpretationsspielraum für Handlungen vergrößern oder verkleinern, die entschuldigen und im Anlassfall auch exkommunizieren. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang und vor allem im Hinblick auf späte Demenzstadien, wie wenig Aktion bzw. wie viel Unterlassung vom System als Handlung beobachtet und somit aufgegriffen wird. Ein entsprechend strukturiertes Intimsystem, welches neben dem kranken auch auf ein gesundes und hochmotiviertes Bewusstsein zurückgreifen kann, vermag hier aus kleinsten Regungen und manchmal auch aus dem (vermeintlichen) "Nichts" heraus ein "Universum" zu kreieren.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wie im Kontext von Säuglingen, deren Adressabilität in der Regel vom ersten Tage an gegeben bzw. vorstrukturiert worden ist, ist es auch in Demenzkontexten erstaunlich, wie "wenig es braucht", um das soziale System anzuregen. Für den wissenschaftlich inspirierten Beobachter mag oftmals sogar ein Fall "einseitig bewusster Kommunikation" (Peter Fuchs) vorliegen, für die Kommunikation scheint dies, sofern die Adresse entsprechend ausgefällt worden ist, kein (zusätzliches) Hindernis darzustellen. Es werden Mitteilungen generiert, also wird auch kommuniziert.

(Die Gedankengänge dieses 1. Abschnitts finden sich ausformuliert und belegt in folgendem Text: http://www.systemagazin.de/bibliothek/texte/lindner_liebe_demenz_soziale_arbeit.pdf )



2.
Im Folgenden sollen nun also Beispiele und Argumente für die These gesammelt werden, dass nicht nur Intimsysteme sondern auch Organisationen, die ihre Weltbeobachtungen vorrangig am sozialarbeiterischen Fall/Nichtfall-Schema ausrichten, über die Fähigkeit verfügen, aus wenigen und streng formalisierten Umweltirritationen heraus ein "Universum", d.h. einen Fall zu kreieren. Als Beispiel dafür werden Arbeitsabläufe in einer Schuldnerberatung dienen. Gezeigt werden soll dabei zweierlei: Zum einen, wie wenige schematische Möglichkeiten der Adressdifferenzierung im Zuge der Kopplung an die Organisation möglich sind und, zum anderen, wie wenige Mitteilungshandlungen der Adresse zugestanden werden und mit welchem Aufwand diese wenigen erzeugten Mitteilungen interpretiert werden.

Der erste Kontakt mit der Schuldnerberatung führt in der Regel, d.h., nachdem die Erstabklärung am Telefon nichts anderes ergeben hat, zu einem Beratungsgespräch, mithin zur "Anlage" einer Adresse. Zu diesem Zeitpunkt wurde also bereits ein Klient "erzeugt", allerdings unterscheidet sich dieser bestenfalls marginal von allen anderen. Das Beratungsgespräch führt dann zu einer Zielplanung, welche sich im Wesentlichen auf folgende Möglichkeiten reduzieren lässt:


a) Es kann eine außergerichtliche Einigung mit den Gläubigern angedacht werden, man versucht also eine Ratenzahlung oder einen Vergleich zu vereinbaren.

b) Es gibt keine Möglichkeit einer außergerichtlichen Einigung und es wird eine Privatinsolvenz vorbereitet und begleitet.

c) Der Klient verfügt aktuell nicht über die Ressourcen für eine Regulierung und wird zum "Leben mit Schulden" beraten.

d) Es besteht allgemeiner Informationsbedarf (z. B. zum Abschluss eines Kreditvertrages oder zur Prävention weiterer Verschuldung) und es bestehen Probleme hinsichtlich einer bereits bestehenden Lösung (z. B. kann ein vereinbarter Zahlungsplan nicht eingehalten werden).

e) Es lassen sich keine Defizite ausmachen, die mit den oben genannten Vorgehensweisen bearbeitet werden können. Der Klient wird weiter vermittelt.


Sofern keine der aufgezählten Vorgehensweisen Anwendung finden kann, wird der Klient "abgewiesen". Eine weitere Ausdifferenzierung der Adresse, die über das schematisch zuhandene "unpassend" hinausgeht, ist dann nicht möglich. In den oben aufgezählten Fällen jedoch wird der Fall bearbeitet und im Zuge dessen eine der Vorgehensweise entsprechende Adressausdifferenzierung vorgenommen. Wie spezifisch diese Ausdifferenzierung ist, kann man z. B. daran ablesen, welche Irritationen es auslöst, wenn ein Hilfeempfänger, dessen Fall auf die Vorbereitung einer Privatinsolvenz hinausläuft, selbständig außergerichtliche Einigungsversuche mit den Gläubigern vornimmt. Derartige Handlungen haben selbstverständlich Mitteilungswert, torpedieren aber die ablaufende Fallarbeit. Sie sind erklärungsbedürftig und werden mithilfe spezifischer Programme bearbeitet. In der Regel wird der Betreffende in der Folge beraterisch angehalten, sein Handeln an das laufende Schema anzupassen.

Der Interpretationsrahmen für Mitteilungshandlungen, welche die angelegte Adresse dem schematischen Ablauf entsprechend weiter ausdifferenzieren, ist also äußerst reduziert und entsprechend formalisiert angelegt. Er duldet nur bestimmte Irritationen und lässt die Anzeige der Annahme einer Mitteilung oftmals auf nur eine ganz genau definierte Weise zu. Sofern der Klient ein solcher bleiben will, mithin das Bewusstsein an der weiteren Ausdifferenzierung der Adresse interessiert ist, mithin es seine Inklusionsmöglichkeiten wahrnehmen und wahren will, muss der Nachweis X beigebracht werden, muss das Formblatt Y ausgefüllt werden, muss eine Ansparung geleistet werden.

Dass die Möglichkeiten der Teilnahme nicht nur schematisch sondern auch hinsichtlich der Häufigkeit streng limitiert sind, soll folgendes Beispiel zeigen. Während der Fallbearbeitung von Klient XYZ wurden, dies erbrachte eine Zählung nach dem Abschluss des Falles, insgesamt 51 Aktenvermerke erzeugt. Von diesen 51 Vermerken entfielen 3 auf persönliche Gespräche im Büro, 5 auf Telefonate mit ihm und 7 auf das Einreichen von Unterlagen durch ihn. Die übrigen 36 Vermerke bestanden aus internen Vermerken hinsichtlich der Interpretation von Unterlagen, Kontakten mit Gläubigern, aktuellen Entwicklungen und Irritationen seitens des Gerichtes, welches die entsprechende Privatinsolvenz durchgeführt hatte. Eine Mitteilung, z. B. das Einreichen eines Insolvenzantrages bei Gericht, kann unter Umständen zu 10 und mehr Aktenvermerken führen, ohne dass erneute Inklusion notwendig wäre. Alle Aktenvermerke tragen unzweifelhaft zur weiteren Ausdifferenzierung der Adresse bei, wenngleich nur ein geringer Teil Informationen aufgreift, die sich klientischem Mitteilungshandeln verdanken.

Ähnliches kann ich von meiner Arbeit bei der Alzheimerhilfe berichten: In der Regel genügten ein Anruf, eine Testung der erkrankten Person und eine Vermittlung in ein Training, um den Fall abschließend zu konstruieren. Allein die Testung ergab schier unendliches Material, um an der Adressausdifferenzierung zu arbeiten, ohne dass dafür noch weitere Gespräche mit Betroffenen notwendig gewesen wären. Das äußerst streng schematisch interpretierte Mitteilungshandeln, welches Betroffene und Angehörige in wenigen Minuten zeigen, kann die Organisation jahrelang beschäftigen.

Folgendes soll diesbezüglich festgehalten und unter 4. noch mit etwas Theorie angereichert werden: Erstens wird Klienten nur eine äußerst begrenzte Anzahl von schematisch verfügbaren Inklusionsmöglichkeiten angeboten. Und zweitens erfolgt die Inklusion ausschließlich unter der Bedingung der Akzeptanz einer Beschränkung auf einige wenige und oftmals ohne jeglichen Möglichkeitsspielraum vorgegebene Mitteilungshandlungen.

Um es zu polemisieren:

Bedürftige, die Hilfeleistungen beanspruchen, müssen

a) hinsichtlich ihres Bedarfs in die organisatorisch vorgesehene Sparte passen, was nichts anderes heißt als: ihren Bedarf an das organisatorische Angebot anpassen, sie dürfen sich
b) ausschließlich an dafür vorgesehenen Stellen äußern und es ist
c) im Allgemeinen auch nur eine ganz bestimmte Äußerung (ein JA) möglich.

Mitunter hat die Organisation auch für ein NEIN zuhandene Schemata (z. B. im Falle einer Verweigerung des JA und ungenügender Fähigkeiten), allerdings muss ab dem Zeitpunkt des "Überspringens" auf diese dann auch wieder JA gesagt werden. So kann ein Klient, der NEIN zur Privatinsolvenz sagt, durchaus noch ein Klient sein, der zum Leben mit Verschuldung beraten wird - sofern er dazu dann wieder fortlaufend JA sagt.



3.
Die Weise, in der sozialarbeiterische Organisationen Inklusion offerieren, erinnert an ein Multiple-Choice-Auswahlverfahren: Es wird eine mehr oder weniger große Anzahl von Fragen gestellt, auf die nur wenige Antworten gegeben werden können. Von diesen Antworten ist in der Regel nur eine die richtige und ein Bestehen des Tests ist an die korrekte Beantwortung der meisten Fragen gebunden. Dass solche Tests in der Regel weniger das Wissen der Probanden als vielmehr das Testverfahren ermitteln, ist konstruktivistisches Einmaleins ("Tests test Tests", Heinz von Foerster). Wenn auf die Frage: "Was isst du gern?" nur die Antwortmöglichkeiten "Schnitzel" und "Salat" vorgegeben sind und der Proband "Salat" ankreuzt, ist damit noch nicht gesagt, dass der Proband gern Salat isst, dass er Vegetarier ist oder dass er nicht gern Schnitzel isst. Dennoch werden solche hinsichtlich der Auswahlmöglichkeiten extremst eingeschränkten Verfahren gern ausgesprochen frei interpretiert. (Man denke an die oftmals haarsträubende Interpretation medizinisch oder psychologisch inspirierter Studien, aber vielleicht auch an die "Welcher Typ bist du?"- Tests in einschlägigen Zeitschriften.) In jedem Fall differenziert die Adresse der Antwort entsprechend aus und dies geschieht im Anschluss an eine "Salat"-Antwort auf andere Weise, als es bei einer "Schnitzel"-Antwort geschehen wäre.

Genauso wenig, und damit wollen wir die Analogie zurück zum Klient-Organisation-Verhältnis spinnen, helfen sozialarbeiterische Organisationen grundsätzlich in individuellen Notlagen oder den Bedürfnissen des Bewusstseins entsprechend. Derartiges findet sich zwar in den plakativen Selbstbeschreibungen einschlägiger Vereine, geschieht aber bestenfalls zufällig und kann spätestens im während eines umfangreichen TQM-Prozesses erzeugten und anschließend ISO-Zertifikats-geprüften Mitarbeiterhandbuch nicht durchgehalten werden. Sozialarbeiterische Organisationen arbeiten spezifischen und hinsichtlich der Spezifität mittlerweile auch äußerst detailliert beschriebenen Programmen, die im Falle einer adäquaten Umweltirritation anlaufen, aber sie sind nicht in der Lage, diese Programme einzelfallbezogen zu ändern. In einem solchen Kontext auf Individualität abzuheben mag werbewirksam sein, kann aber nur unter Inkaufnahme einer Mogelei geschehen, die invisibilisiert, dass sich das Abheben auf den Einzelfall bei genauer Betrachtung als eine Disziplinierung des gekoppelten Bewusstseins entpuppt, welches dann programmatisch generierte Adressschemata durch adäquate Mitteilungshandlungen bedient (vgl. Dirk Baeckers Aufsatz: "Wie steht es mit dem Willen Allahs", Abschnitt "Dienst am Kunden", Z. B. zu finden in Baecker, Dirk 2002: Wozu Systeme?, Kadmos-Verlag).

Die in den letzten beiden Jahrzehnten in Sozialvereinen eingeführten Qualitätsstandards legen dezidiert fest, in welchem Rahmen strukturelle Kopplungen eingegangen werden können und sie geben im Wesentlichen auch vor, welche Mitteilungshandlungen die ausdifferenzierten Adressen ermöglichen und erfordern (wenngleich dieser Aspekt in den Handbüchern selten betont wird). Nur wenn Formular X ausgefüllt wird, kann Hilfeleistung Y bewilligt werden. Und nur wenn die Kopplungsbereitschaft durch die verlässliche Einhaltung der regelmäßig anzusetzenden persönlichen Kontakte dauerhaft angezeigt wird, werden weitere Mittel zur Verfügung gestellt. Und nur wenn die Interventionsversuche der Familienhelferin die im Qualitätshandbuch beschriebene, also programmatisch prophezeite (und somit erforderliche) Wirkung zeigen, wird die Familienhilfe auch verlängert. Die Frage nach dem konkreten Hilfebedarf muss und sollte unter diesen Umständen nicht gestellt werden, denn adäquate Hilfemöglichkeiten würden nur zur Verfügung stehen, wenn sich Bedarf und Angebot zufällig decken.



4.
Man muss in der Betrachtung des vorliegenden Sachverhalts nicht unbedingt David Simons Gleichnis der griechischen Tragödie folgen, in welchem er Organisationen als Götter darstellt, die ihr Spiel mit den ohnmächtigen Menschen treiben (http://www.neunetz.com/2012/01/31/the-wire-institutionen-und-das-21-jahrhundert). Aber es spricht im Zusammenhang von Untersuchungen zu Kopplungsmechanismen Einiges für Überlegungen, die ihren Fokus zumindest zeitweilig weg von der Kopplung hin zu den Bedingungen und Konsequenzen der Differenzreproduktion der Organisation lenken. Blickt man nämlich dezidiert auf diese soziale Struktur, dann lässt sich beobachten, dass Organisationen "adressieren": Es ist egal, mit welchen Bedürfnissen, Eigenschaften oder Ansprüchen sich das Bewusstsein auf die Kopplung einlässt. Es muss sich auf die zur Verfügung gestellt Adresse einlassen, um (als "Klient") adressabel werden zu können. Die damit einhergehende Bündelung von detailliert vorgegebenen Handlungserwartungen und nicht zuletzt auch Zuschreibungen (z. B. potentiell suchtgefährdet, Angehöriger einer "Problemfamilie", widerspenstig, faul, bemitleidenswert) ist zu akzeptieren und im schmalen Rahmen der akzeptablen Verhaltenmöglichkeiten im Einzelfall bestenfalls ansatzweise zu verändern.

Es ist allein die Kommunikation, welche die sich mitteilenden Handelnden konstruiert und sie tut dies im Kontext von Fall/Nichtfall-orientierten Entscheidungen mit einer extremen Reduktion der Mitteilungsmöglichkeiten. Es ist auch allein die Kommunikation, welche den "Fall" konstruiert, indem sie die systeminternen Beobachtungen programmatisch auf ihn bezieht und dabei ein äußerst begrenztes Spektrum an verschiedenen Fallschemata bereithält.

Angesichts dieser Befunde würde ich nicht länger - wie früher - von "Klientensystemen" sprechen wollen, weil die Familie oder das Bewusstsein mit den Beobachtungen, die sie "als Klienten" tätigen, in ihrer "Klientenheit" nur äußerst unzureichend erfasst sind. Man erfährt viel mehr darüber, wenn man auf die Adresse blickt, welche die gekoppelte Organisation ausdifferenziert hat. Und diese Klientenadresse ist eine Konstruktionsleistung des sozialen Systems, die der Umwelt an einigen Stellen, an denen sich das System kognitiv öffnet, die Möglichkeit eines JA oder NEIN zugesteht. Abgesehen davon wird der "Fall" prozessiert, der aktuelle Zustand oder die wie auch immer gearteten Bedürfnisse des gekoppelten Bewusstseins sind dafür unerheblich. Selbst eine Verweigerung von Mitteilungshandeln tut diesem Prozessieren keinen Abbruch, notfalls werden aus Unterlassungen Mitteilungshandlungen konstruiert (z. B. wenn Termine nicht wahrgenommen werden).

Wenn ich es mir recht überlege, bin ich eigentlich doch geneigt, David Simons Gleichnis folgen.

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Eingebungen (nicht unbedingt eine Antwort)
1. Bei mir ist beim Lesen der Gedanke entstanden, dass die Adresse auch durch Rückmeldungen von z.B. Ämtern etwa im Zuge der Beantragung einer Hilfe ausdifferenziert wird. Durch etwaige Schwierigkeiten auf dieser Ebene kann es schon zu einer Adressbildung kommen, die mit dem Lable "problematisch" versehen wird, ohne dass es zu Interaktionen mit dem Klienten
kam. Also dem Klienten den man anfassen kann :-)

2. In Einrichtungen, insbesondere zur Klärung des sog. Hilfebedarfs wird der Einsatz umfangreicher Erhebungsinstrumente legitimiert mit der Weisheit: "Je mehr wir über den Klienten wissen, um so besser können wir ihn verstehen und uns auf Besonderheiten einstellen oder vorbereitet sein." Echt Retro. Selbst in etablierten Beratungsprogrammen/-methoden wird von dieser Weisheit abstand genommen, etwa in der motivierenden Gesprächsführung (Miller/Rollnick).

3. "spezifischen und hinsichtlich der Spezifität mittlerweile auch äußerst detailliert beschriebenen Programmen" Das klingt ja geradezu nach einer Herausforderung zu empirischer Forschung ;-)

4. Schöner Text, danke
 
Klientensystem
Bei dem Begriff ist mir grundsätzlich nicht klar, was damit bezeichnet werden soll. Meist leitet das zu einer Vermischung der Bobachtungsebenen "soziales" und "psychisches System". Das ist häufig herauszulesen in Veröffentlichungen, die dieses Wort nutzen: Gemeint ist der mir gegenüber, der mit mir redet.
Und das ist ja nun wirklich abzulehnen :-)

Auf der anderen Seite könnte man im Anschluss an den Text oben überlegen, ob man diesen Begriff gewinnbringend darstellt und kontraintuitiv in die Diskussion zurück gibt. Also etwa:
1. Klient ist ein soziales Phänomen, keine Bezeichnung eines objetiven Zustands einer Person (oder so)
2. "Klientensystem" ist mithin ein Kommunikationseffekt (oder so)
3. ... der durch Adressbildung / Programmverfügbarkeiten mehr bestimmt wird als durch "empathische Erkenntnis"
4. Implikationen für die Praxis (falls Fördermittel von Bund oder Stiftungen aquiriert, sonst entbehrlich) ;-)
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