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Mi, 28.März 2007
Niederschwellige Sozialarbeit als local action der Sozialen Hilfe
von: nwe Geht man ungeachtet der deskriptiven Schwierigkeiten davon aus, dass Soziale Hilfe sich als Funktionssystem der Gesellschaft bereits ausdifferenziert und stabilisiert hat, so kann man auch vermuten, dass dieses System bereits Mittel und Wege gefunden hat, sich auch in vermeintlich schwierigen Situationen fortzusetzen.
Schwierige Situationen in diesem Sinne wären Ereignisse, in denen die Anschlussfähigkeit von Operationen an Operationen im System fraglich oder zumindest überhaupt Thema ist. Für gewöhnlich wirft der Sinnhorizont derart viele Interpretations- und somit Anschlussmöglichkeiten auf, dass etablierte Systeme wie die Funktionssysteme keine Probleme mit der rekursiven Fortsetzung der eigenen Operativität haben. Allerdings dürfte gerade und auch diese Erfahrung von Kontingenz in den Möglichkeiten der eigenen Fortsetzung auch die Kontingenz der Möglichkeit dieser eigenen Fortsetzung aufzeigen. „Schwierig“ sind derartige Situationen zunächst immer dann, wenn sie Systeme überraschen, das heißt, Systeme nicht sofort über adäquate Möglichkeiten der Beobachtung dieser Situationen zu verfügen scheinen und die Systeme dann in der Reaktion darauf eben gerade dies (2. Ordnung) beobachten: Dass keine adäquaten Beobachtungsmöglichkeiten vorzuliegen scheinen. „Vermeintlich“ schwierig muss man solche Situationen nennen, weil Systeme in der Feststellung dieses Sachverhalts bereits reagieren, sie schließen, im Zuge der Suche nach geeigneten Beobachtungsmöglichkeiten, operativ an Operationen an (dies bekommt ein Beobachter allerdings nur in den Blick, wenn er 3. Ordnung beobachtet). Die Beschreibung Sozialer Hilfe als Funktionssystem [vgl. Baecker 1994] sorgt u. a. dafür, dass jede helfende Kommunikation als kontingent aufgefasst werden muss: Der binäre Code Helfen/Nichthelfen zeigt im fortlaufenden Anschluss von Helfen an Helfen immer auch auf, dass die Möglichkeit des Nichthelfens besteht. Andererseits ermöglicht eben gerade diese binäre Codierung auch Beobachtungen, die dort nach Möglichkeiten der Hilfe suchen, wo (noch) nicht geholfen wird. Dieses Suchen übernehmen Organisationen, welche (ihren spezifischen Programmen folgend), die Welt des Sozialen(genauer: die Welt der Nichthilfe) beobachtenderweise nach Möglichkeiten des Helfens abtasten. Helfende Kommunikation ist allerdings an die Konstruktion von Adressen gebunden (nur so können Personen Inklusion in die Soziale Hilfe erfahren) und diese Konstruktion erfordert in den meisten Fällen, im Falle des Systems Sozialer Hilfe wohl unbestritten, ein gewisses Maß an Mitwirkung von Personen bzw. psychischen Systemen. Klassisches Helfen, z. B. im Rahmen der Armenfürsorge, konnte sich in dieser Hinsicht immer auf stabile Kopplungen verlassen. Das Funktionssystem kann sich als solches nur behaupten, wenn es seine Funktion erfüllt und seine Leistungen leistet. Wie aber können die Teilnahmechancen von Personen verbessert werden, die zwar offensichtlich (das heißt: in den Beobachtungen der Organisationen der Sozialen Hilfe) wenig oder gar nicht gesellschaftlich partizipieren, jedoch auch vom System der Sozialen Hilfe nicht als Adressen konstruierbar sind? Was kann man tun, wenn Hilfen zwar ohne weiteres vollziehbar wären, rechtlich, politisch und wirtschaftlich abgesichert sind, aber die Konstruktion einer Adresse in der Sozialen Hilfe nicht gelingen will? Hier stocken die Beobachtungen des Funktionssystems. Zunächst steht es vor einem Problem, welches eigentlich keines des Systems ist, denn der Anschluss von Hilfen an Hilfen wäre gesichert, wenn nur die Umwelt mitspielen würde. Es liegen Beobachtungsmöglichkeiten bereit, aber die Organisationen sind offenbar nicht in der Lage, die stabile Konstruktion einer Adresse der Sozialen Hilfe zu gewährleisten. Die Personen, auf die abgezielt wird, sind nicht bereit, an der Kopplung mitzuwirken, die eine Adresskonstruktion möglich machen würde. Die Situation ruft nach einem Kamel [vgl. Baecker 2002: 126ff.]. Das Gesundheitssystem holt sich in einem vergleichbaren Fall mithilfe des Kamels „Zwangseinweisung“ Unterstützung von Recht und Politik. Ähnliche Kamele lassen sich vereinzelt auch im Zusammenhang mit dem Hilfesystem beobachten (z. B. der §35 im österreichischen Suchtmittelgesetz). Mit der Konzeption einer niederschwelligen Sozialarbeit können sich die Organisationen jedoch eines wesentlich abstrakteren und somit umfassenderen Kamels bedienen, welches das Funktionssystem durch das Stocken seiner Beobachtungen geleitet und ihm somit local action [vgl. Baecker 2002: 166ff.] ermöglicht. Während dieser local action gelingt die Konstruktion und Stabilisierung von Adressen, die sonst in den Begriffen des Systems keine wären. Niederschwellige Sozialarbeit erbringt dabei für das Funktionssystem mehrere Leistungen: Zum einen macht sie es möglich, im Hinblick auf die Adressen bereits bestimmte, eben „niederschwellige“ Hilfen an Hilfen anschließen zu lassen und somit direkt an der autopoietischen Fortsetzung des Funktionssystems mitzuwirken. Zum anderen werden die Adressen im Zuge dieser niederschwelligen Hilfen stabilisiert und gegebenenfalls an die nicht niederschwelligen Hilfen herangeführt. So wird in Aussicht gestellt, zukünftig nicht niederschwellige Hilfen an nicht niederschwellige Hilfen anschließen und an die entsprechende Adresse adressieren zu können. Dies würde dann auch gleichzeitig den Übergang zur global action bedeuten. Gelingt dieser Übergang nicht, so werden die Adressen doch zumindest „in Reserve“ gehalten, das heißt, man wäre für den Fall eines Umschaltens auf global action vorbereitet. Weiterhin wäre im Hinblick auf die Leistungen niederschwelliger Sozialarbeit auch die Prävention zu untersuchen. Vermutlich können in der Niederschwelligen Arbeit auch Adressen präventiver Sozialarbeitarbeit konstruiert werden, die sonst im Hinblick auf Prävention nicht konstruierbar wären. (Hier ist mutmaßlich ausschließlich von Sekundärprävention zu reden.) Der grundlegende Unterschied zwischen niederschwelligen und nicht niederschwelligen Hilfen wäre darin zu suchen, dass erstere, um als Operationen im autopoietischen Geflecht der Sozialen Hilfe beobachtbar zu sein, ein Kamel benötigen. Zu vermuten ist, dass die Soziale Hilfe im Zusammenwirken mit Organisationen im Laufe zunehmender Rekursivität (Erfahrung) gelassener auf oben beschriebene Situationen reagiert und die entsprechende local action mehr und mehr professionell bzw. professionalisiert betreibt. Wichtig scheint allerdings, dass dabei lediglich das Umschalten auf global action vorausgesetzt wird (es muss als möglich aber nicht ganz sicher erreichbar angenommen werden). Die Art und Weise des Umschaltens und zeitliche Aspekte müssen zu Beginn der local action weitestgehend im unbestimmten belassen werden. Andernfalls läuft Niederschwellige Sozialarbeit Gefahr, irgendwann nicht mehr als Kamel sondern lediglich als ein Helfen unter anderem im rekursiven Netzwerk des Helfens beobachtet zuwerden. Dies würde dann ein weiteres, neues (und die einer local action innewohnende und äußerst produktive Mischung aus Unbestimmtheit und Sicherheit erzeugendes) Kamel erforderlich machen, welches Adressen konstruiert, die sonst keine wären. Zu vermuten ist weiterhin, dass, will man den hier getroffenen Überlegungen folgen, die niederschwellige Sozialarbeit nicht innerhalb und nicht außerhalb des Funktionssystems Sozialer Hilfe zu suchen ist. Sie sitzt auf der Grenze und verweist auf diese. Und sie tritt nur auf den Plan, wenn eben diese Grenze in Frage steht, das System also stockt. Dass die Organisationen der Sozialen Hilfe während der in diesem Text beschriebenen local action eine andere, nämlich eine klientensystemische local action [am Beispiel von Sozialberatung vgl. Lindner 2004: 67ff.] vorbereiten, die dann in dem Moment beginnt, in dem das Funktionssystem zur global action übergeht, gilt es gesondert zu untersuchen. Quellen: Baecker Dirk 1994: Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie, 23. Jahrgang, S. 93ff. Baecker, Dirk 2002: Wozu Systeme? Kadmos, Berlin Lindner, Ronny 2004: unbestimmt bestimmt. Carl-Auer, Heidelberg
m8
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Stockt ein Funktionssystem, nur weil mal nicht geholfen werden kann? Sind nicht ausreichend andere Hilfeereignisse vorhanden um die Autopoiesis abzusichern?
Mir scheint der Anlass für niedrigschwellige Arbeit eher in Umweltbedingungen zu liegen: Wächteramt des Staates in der Kinder und Jugendhilfe, Ordnungsgesetze bei Wohnungslosen, die die Entwicklung/Umsetzung dieser Form von Arbeit (Programm?) befördern. Ein Kamel ist doch ein Element, das (zunächst) nicht Element/Operation des Systems ist: eben Kamel, keine Rechtsentscheidung. Ist die niedrigschwellige Hilfe nicht auch Hilfe, also Operation des Systems? Nur als Anmerkung, selbst nicht ausreichend durchdacht.
nwe
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Danke, das werde ich prüfen. Das Kamel muss präzisiert werden. Möglicherweise ist es... der Sozialarbeiter...
Das Funktionssystem stockt im Sinne der Kamelgeschichte, das kann ich mir ziemlich gut analog vorstellen.
m8
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"Das Funktionssystem stockt im Sinne der Kamelgeschichte, das kann ich mir ziemlich gut analog vorstellen."
Da werden wir uns wohl nie einigen können :-)
nwe
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Ja, das wird wohl so sein :)
Auch wenn das System noch jede Menge anderer Operationen am laufen hat, so stocken doch seine Beobachtungen (aber nur die, welche eben stocken - die anderen laufen ungestockt weiter), wenn eine Operation an eine Leerstelle läuft. Meine ich :) Ich denke das ein bißchen so, wie wenn Systeme auf Widersprüche auflaufen (vgl. Soziale Systeme): Es flackert eine Art Signal auf, ein "Achtung! Hier ist etwas nicht normal." Und schon wenn das System darauf Bezug nimmt, schon wenn es das Problem nur markiert, operiert es ja weiter. Und trotzdem wird es dabei mit seiner Nichtselbstverständlichkeit konfrontiert, damit, das störungsfreies Beobachten nicht selbstverständlich ist. Im übrigen ist die Autopoiesis auch während des Stockens immer abgesichert. Stocken ist eine Form des Operierens. Nur Beobachtungen können stocken. Operationen nicht. Aber da werden wir uns wohl nie einigen können...:)
nwe
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So, die Überschrift wurde nun nach reiflicher Überlegung von mir verändert. Das "Kamel" wurde durch den korrekten Begriff "local action" ersetzt.
m8
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Vielleicht neige ich zu überzogener Genauigkeit, vielleicht ist es ein Mißverständins:
Mit Stocken meinen manche Autoren einen Systemzustand, bei dem die "...operative Reproduktionsfähigkeit durch Störung in Frage gestellt..." wird (ub, S. 76, wahrlos herausgegriffen). Es bezieht sich also auf eine operative Infragestellung des betrachteten Systems. Wenn man die Betrachtung auf das Funktionssystem bezieht, müsste man das Stocken (und die damit verbundene operative Infragestellung) im Bezug auf das Funktionssystem beschreiben. Das Funktionssystem müßte meines Verständnis in "operative Infragestellung" geraten. Dies ist das System der Beobachtung. Mir scheint der Ansatz der Beschreibung auf der Ebene von Interaktion oder Organisation sofort anschlussfähiger. Oder man kann empirisch zeigen, dass tatsächlich im Bezug auf das Funktionssystem das Stocken derart ist, dass das Funktionssystem – etwa in Bezug auf die Funktion und Leistung – operativ in Gefahr gerät/geraten würde, wenn es diese Hilfeform nicht geben würde. Mir scheint aber, es gibt diese Hilfeform nicht in allen Kontexten, etwa nicht im Bereich der pflegeunterstützenden Dienste. Es gibt Bereiche in denen die Hilfeanlässe beschränkter bezeichnet sind. Auch das kann man als Beschränkung des Funktionssystems, entgegen seiner Autopoiesis diskutieren. Es gibt aber ebenfalls Anlass zur Annahme, dass das Funktionssystem dadurch allein nicht in die besagte operative Gefahr gerät – es wird in dem spezifischen Kontext halt einfach kein Hilfeanlass gesehen. Auch das verweist wiederum auf den funktionssystemischen Status. Aber es kann sein, dass ich das operative Infragestellen zu restriktiv handhabe(n will).
nwe
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Die Unterscheidung zwischen Beobachtung und Operation ist hier sehr wichtig. Die Reproduktionsfähigkeit wird auf operativer Ebene in Frage gestellt, aber dies kann nur beobachtend geschehen. Ein System beobachtet, dass es operativ in Frage steht. Dann kommt ein Beobachter 2. ordnung und beobachtet folgendes:
"Nein, liebes System, du kannst operativ gar nicht in Frage stehen, sonst könntest du diese Beobachtung nicht machen. Aber es ist interessant, dass dir auf diese Weise mal die Nichtselbstverständlichkeit deiner Operativität beobachtbar gemacht wird." Nur Beobachtungen stocken, auch wenn diese Beobachtungen stocken, weil sie operatives Stocken beobachten. Operatives Stocken gibt es nicht. Daher auch mein Vergleich mit Luhmanns Bemerkungen zum Widerspruch. Es kann nur im Anschluss von Operationen an Operationen auf Störungen, wie massiv die auch seien, reagiert werden. Bei Beobachtungen ist das anders: Die können stocken, abbrechen. Dann geht das System mithilfe anderer Beobachtungen auf die Störung ein.
nwe
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"Es gibt aber ebenfalls Anlass zur Annahme, dass das Funktionssystem dadurch allein nicht in die besagte operative Gefahr gerät – es wird in dem spezifischen Kontext halt einfach kein Hilfeanlass gesehen."
Ich bin nicht sicher, ob ich das recht verstehe. So wie ich es verstehe, würde ich sagen, dass Hilfeanlässe beobachtet werden, aber Hilfen nicht angeschlossen werden können. Ich gehe zunächst von der These aus: Es gibt keine adäquaten Hilfeformen, die auf nicht stockende (Klienten-)Systeme Bezug nehmen können. Erst wenn sich die Klientensysteme als stockend beobachten, kann angeschlossen werden. Und ich überlege nun, ob das Funktionssystem in seinen Beobachtungen stockt, weil es Hilfeanlässe beobachtet, aber keine Kopplung zustande kommen will, die für Anschlüsse stabil genug wäre. Und dann überlege ich, ob es dem Funktionssystem helfen könnte, wenn es sich tarnt und so mogelnderweise zu seinen Adresskonstruktionen und -verwaltungsmöglichkeiten kommt. |
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